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Parkgestaltung

Prospect des Carls-Berges oder der berühmten Grotten und Wasserfälle bey Cassel
Gestochen von Wolfgang Christoph von Mayr 1766, nach einer Zeichnung von
Johann Georg Finck um 1750.

http://tudigit.ulb.tu-darmstadt.de/show/ O_3471_01/0001


Hat diese Anlage Mitte des 18. Jahrhunderts wirklich so ausgesehen?
Ja, ziemlich genau. Beschreibungen und Besichtigungsnotizen von mehreren gut situierten Reisenden belegen das.

Johann Georg Finck war unter Landgraf Wilhelm VIII. Landbaudirektor und mit den Baumaßnahmen im Park von Schloss Wilhelmsthal betraut. Ihm ist es gelungen, das barocke Wassertheater am Hang des Habichtswaldes von oben, aus der Vogelperspektive zu betrachten und das Ganze in einer Zeichnung zu veranschaulichen. Die Zeichnung ist die Vorlage für den Hofkupferstecher W. C. Mayr. Beide liefern eine kongeniale Grafik ab, die uns einen stimmigen, faszinierenden Gesamteindruck vermittelt.

Dargestellt ist ein Großprojekt, erstrangig im europäischen Vergleich. Die Fürsten der Zeit geben Prospekte in Auftrag, um sich über Planungen und Ausführungen zu informieren. Stiche mit solchen Ansichten werden in Auflagen von einhundert und mehr Stücken gedruckt und an befreundete Fürstenhäuser geschickt oder in Kassel den zahlreichen Gästen und Besuchern zum Kauf angeboten.

Solche Kupferstiche werden zudem kopiert, dieser in noch höherer Auflage in einer Sammlung vom Schleuen-Verlag in Berlin herausgegeben, mit der Nummer 51 versehen. Die Vorlage für mein Plakat stammt von einem Original-Druck, das ist an den feineren Linien zu erkennen. Es ist ein Digitalisat aus der Universitäts- und Landesbibliothek Darmstadt. Auf dem sehr gut erhaltenen Abzug aus dem Jahr 1766 sind die Details der grandiosen barocken Kaskaden bestens zu erkennen, auch deshalb lassen sie sich so wirkungsvoll in Szene setzen.  

Oben das Oktogon mit Pyramide und Herkules-Statue, zusammen 71 m hoch. Unterhalb des auch Riesenschloss genannten Baus wirken zwei Grottenanlagen auf den ersten Blick hin wie ein Bollwerk. Der Eindruck trügt, die Querachse und die Serpentinen lassen uns erahnen, wie vor mehr als dreihundert Jahren die Kaskaden in den Berghang und das alte, für die Jagd angelegte Wegesystem eingefügt werden. Der Wald wird überformt. Das entspricht dem Denkmuster des Barock, speziell auch die Natur geometrisch auszurichten.

Auf diesen Wegen sind das Herkulesplateau und die Grottenanlagen für die Hofgesellschaften direkt zu erreichen. Eine solche Gruppe hat sich unten neben dem großen Bassin versammelt. Ein Kavalier hilft einer Dame, aus der Kutsche auszusteigen. Oberhalb, unter einem Zeltdach, haben andere Gäste Platz genommen. Wer schenkt den Wein ein? An der Kleidung ist nicht zu erkennen, wer Diener und wer Herr ist. Links am Weg hält ein Mann zwei Pferde. Das linke mit gestutztem Schweif, trägt es einen Damensattel? Wartet der Herr dort auf den Begleiter der Dame, die in ihrem Rokoko-Kleid aber sicher nicht auf ein Pferd steigen wird? Hinten im Bild verlassen gerade zwei Reiter diesen Ort.
Der Zeichner scheint ein Kommen und Gehen festhalten zu wollen.  

Deutet das darauf hin, dass diese grandiosen barocken Anlagen nicht nur auf herrschaftliche Repräsentation angelegt sind. Die Landgrafen haben ein Interesse daran, dass Auswärtige und Fremde vor Ort das Spektakel besuchen und bewundern. Das ganze Theater soll erlebt werden, damit die Gäste bei ihrer Rückkehr berichten. Erinnern sich die Besucher erstaunt, belustigt und überrascht an das Erlebte, bleiben die Inszenierungen im Kopf. Darüber lässt sich bestens erzählen.

Landgraf Karl, der Auftraggeber und Initiator, will eigentlich den bewaldeten Berghang bis hinunter zum Lustschloss Weißenstein in eine monumentale barocke Anlage umwandeln lassen. Das gelingt bis zur Eröffnung 1714 nicht ganz. Die Geldmittel sind ausgeschöpft. Erst fünfzig bis hundert Jahre später setzen die Landgrafen Friedrich II. und Wilhelm IX. die Baumaßnahmen fort. So entsteht ab Ende des 18. Jahrhunderts der zweite Abschnitt der heutigen Wasserspiele, die romantischen Inszenierungen im Landschaftspark bis hinunter zum dann um 1800 neu gebautem Schloss.

Zurück zum barocken Ereignis.

Der Stich lädt uns ein, wie vor 300 Jahren angedacht vom Plateau des Oktogons aus die Ebene des Artischockenbrunnens zu betreten. Hier beginnt das Theaterstück, in dem mehrere Wasserbilder hintereinander auf- und abtreten. So wie sich im Ganzen noch heute bis hinunter zum Schloss die einzelnen Wasserbilder aneinander reihen.

In die Inszenierungen eingeflochten nehmen wir an überraschenden Ereignissen teil. Das beginnt in den Vexierwassergrotten. Sobald die Wasserstrahlen und die Fontäne im Artischockenbrunnen aufsteigen, ertönt geheimnisvoll die Panflöte. Diese lockt Besucher an. Mit einem Mal springen Wasserstrahlen aus dem Boden auf, zur Belustigung aller Umherstehenden.

Ist das Artischocken-Bassin gefüllt, stürzt das Wasser einen Felsenhang hinunter. Dieses Schauspiel begleiten wir, indem wir das Treppenrund rechts oder links nehmen, hinabsteigen und die Ebene des Riesenkopfbassins erreichen. Wo kommen die Wasser für diesen Akt des Theaterstücks her? Für die Besucher, die nicht an speziellen Führungen teilnehmen, bleibt das auch heute verborgen. Fließt das Wasser wirklich vom Oktogon aus hinunter zu den Grotten, zum Riesenkopf? Unter den Felsmassen liegt der Titan Encelados, der die Götter im Olymp stürzen will und nun von Herkules besiegt wird. Eine 12 m hohe Fontäne speit er dem Helden entgegen. Dieser wacht fortan über Kassel.

Überhaupt spielen aufsteigende Wassersäulen in den barocken Gärten eine wichtige Rolle. Solche schmalen Fontänen sind hier auf dem Stich im Kaskadenverlauf prominent platziert, unten im Neptunbecken sind es zwei, die sogar aus einem Felssockel hoch aufsteigen.

Zwei Assoziationen drängen sich auf: Landgraf Karl vergleicht sich mit Herkules. Und mit den barocken Kaskaden will er Ludwig XIV., dem mächtigen französischen König, die Innovationskraft und den Reichtum der hessischen Landgrafschaft vorführen. Hessen-Kassel kann nicht besiegt werden.

Eine Hintergrundinformation dazu muss hier genügen. Landgraf Karl gelingt es 1692 mit einem Entsatz-Heer, die Belagerung der so wichtigen hessischen Burg Rheinfels durch die Franzosen abzuwehren. Die linksrheinische Festung bleibt im Deutschen Reich.

Die weiteren Wasserspiele der barocken Kaskade, also die unterhalb der beiden Grottenplateaus, scheinen nicht so spektakulär zu sein. Es sind aber ebenso technisch ausgeklügelte Inszenierungen. Viermal sammeln sich die Wasser in Bassins. Dazwischen fließen sie dreifach parallel angeordnet Stufe um Stufe hinunter. In der Mitte sind es jeweils sieben, außen rechts und links jeweils elf. Wie das abgestimmt, also zeitgleich abläuft, ist genial gelöst. Über Schieber lässt sich aus zwei Speicherbecken das Wasser einmal zur mittleren Stufe und zeitlich minimal verzögert zu den äußeren Stufen leiten. Alles funktioniert heute noch mit der gleichen Technik wie vor 300 Jahren. Die Wasser sammeln sich in den Zwischenbassins, dann erreichen sie die folgende Ebene.

Zum Abschluss fallen die Wasser rauschend in das Neptun-Bassin. Die Spiegeleisen an allen Abfallkanten und erst recht hier unten am sechs Meter tiefen Sturz machen einen besonderen Reiz aus. Durch das glatt und  durchsichtig fallende Wasser hindurch ist der Meeresgott Neptun auf seinem Thron gut zu erkennen.
Die Wasser fließen hier unten symbolisch ins Meer. In diesem steigen sie zu den Wolken auf und fallen oben als Regen wieder zur Erde. Wenn das Theater diesen Kreislauf darstellt, sollen sich die Gäste trotzdem fragen: Wie gelangen die Wassermassen wieder hoch auf den Berg? Wo sind die Pumpen? Rätseln, Erstaunen.  
Die Besucher sollen spekulieren, nach Antworten vor Ort suchen. Weiter unten, am Fontänenteich finden sie die diese. Die Kaskadenwasser fließen heute durch ein unterirdisches Rohr im Hang ab, in der Barockzeit aber sichtbar zum Fontänenteich und von da aus in fünf Fischteiche und schließlich zur Drusel und in die Fulda.

Erst im Landschaftsgarten des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts versorgt die 80 cm dicke Rohrleitung zusammen mit Wasser aus Reservoirs am Südrand des Parks die weiteren Inszenierungen im Park. Die barocken Wasserkünste gehen in die romantischen über.

Noch eine kleine Erklärung:
Mehrere Reservoirs, Leitungen und Gräben sind auf der Höhe weit hinter dem Oktogon als Vorrat für die immer wieder neue Inszenierung der barocken Wasserkünste angelegt worden. Das Sichelbach Vorwerk ganz oben wurde bereits 1698 errichtet. Diese Planung ist der Beleg dafür, dass die Technik für die barocke Wasserkunst bereits einige Jahre vor der ersten Inszenierung der Kaskaden entwickelt wurde. Auf der Basis von Innovationen aus dem Bergbau und auf der Basis neuer technischer Entwicklungen aus Kassel gelingt es, ausreichend Wasser zu speichern und über Kanäle den Vorhaltebecken und damit den Inszenierungen zuzuführen.

Das Alles ist einzigartig, einmalig auf der Welt. 

Ja und die Gesellschaft hier rechts im unteren Bildrand? 1776 haben sich vornehme Personen ein Zeltdach aufbauen lassen, um von hier aus zum Herkules und zu den Grotten zu gelangen, bequem mit der Kutsche oder zu Pferd. Hier lässt sich Verweilen. Getränke und Speisen werden gereicht. Das große Weinfass lässt vermuten, dass sich die kommenden Tage weitere Personen am Neptun-Bassin treffen.
Nicht zufällig ist das Kaskaden-Restaurant, gegenüber an der Südseite des Neptun-Bassins, ein beliebter Anlaufort für die Besucher heute. Es wurde vor 200 Jahren als Gaststätte eröffnet, nach dem Umbau des alten Wachhauses aus dem 18. Jahrhundert.

Der Bergpark und die Wasserspiele stehen Besuchern aus aller Welt offen.

Text zum Plakat „Barocke Kaskaden 1714“, entwickelt für die
Plakat-Ausstellung Wasser und Welterbe – Kurbad Wilhelmshöhe

Jürgen Fischer, März 2023