POSTKARTEN .. - .. DAS.. GEDÄCHTNIS . EINER . STADT.
Für das Verständnis der Geschichte Kassels sind historische Ansichten auf Postkarten so wichtig, weil
sie das Stadtbild der letzten zwei Jahrhunderte dokumentieren. Lithografien, Kupferstiche und dann Fotografien waren die Vorlagen für die neuen Drucktechniken, mit denen ab Ende des 19. Jahrhunderts Bilder in Zeitungen, Zeitschriften und Büchern in die Seiten eingesetzt werden konnten. Die Postkarten konnten in hoher Auflage erscheinen, "Mitteilungskarten mit Bildinformation". Bilder werden zum profilierenden Medium.
Der Begriff Postkarte bleibt auch im beginnenden
20. Jahrhundert das Markenzeichen für ein Massenprodukt. Die Reichspost versendet
jährlich über 500 Millionen Exemplare.
Und die Ansichten selbst sind immer mehr der Beweggrund dafür, eine Karte zu kaufen und zu verschicken oder auch um die Kartenmotive zu sammeln. Postkarten sind Erinnerung und der Beleg dafür, da gewesen zu sein.
In Postkarten steckt Kulturgeschichte.
Ausgehend von Motiven auf Ansichtskarten lässt sich dreifach auf Geschichte und Entwicklung einer Stadt schließen:
1. Sie bilden ein Stück Realität in der Zeit ab.
Zu sehen sind Gebäude, Häuserfronten, Straßenzüge, Plätze, Kunstwerke und Alltagsszenen sowie Stadtbilder aus der Weite oder vom erhöhten Standort aus.
2. Sie bilden zugleich Ideelles ab, die Sicht auf etwas.
In den Motiven spiegelt sich eine jeweilige Bedeutung für die Betrachter, für die Person, die auswählt, sowie die Person, die den Druck in hoher Auflage veranlasst.
3. In der An-Sicht auf die Realität stecken Hinweise auf die Einstellung zu einer Stadt. Welche Motive herrschen vor, welche Rolle spielt das verlorene oder ein gewünschtes Stadtbild? Lässt sich auf Identifikationen und Mentalitäten schließen?
Der dritte Gesichtspunkt ist speziell für Kassel sehr interessant, weil viele Postkartenmotive an das alte Stadtbild vor der Zerstörung 1943 erinnern, diese Fotos nach 1945 oft wieder aufgelegt wurden und zeitweise durchaus den Bildern vom Wiederaufbau und dem neuen Kassel den Rang streitig gemacht haben. Es hat ja in den 50er, 60er und 70er Jahren zu Recht eine intensive Diskussion um den Wiederaufbau gegeben.
Die Vorkriegs-Drucke verweisen auf den Istzustand vor 1943 und sind somit Zeitdokumente. Doch sie präsentieren ausgewählte Altstadt-Motive, vorwiegend Häuser mit schönem Fachwerk und schmucken Fassaden. Kaum erkennbar ist, wie herunter gekommen ganze Häuserzeilen waren. Vermitteln da nicht einige neu gedruckte alte Motive ein eher idyllisches Gesamtbild? Verklärung in Sepiabraun?
Ist es nicht sinnvoller zu sagen Kassel war vor 1943 eine andere Stadt, mit ausgesprochen schönen Stadtbildern, mit ganzen Häuserzeilen in der Altstadt im nordhessischen Fachwerkstil, mit den zentralen Plätzen, den Palais und den vielfältig und ideenreich gestalteten Hausfassaden entlang der großen Straßen, den neuen Stadtvierteln aus der Gründerzeit und dem frühen 20. Jahrhundert.
Jetzt lässt sich doch das alte Stadtbild mit dem heutigen gut vergleichen. Ein Blickwinkel dabei könnte die zurzeit anerkennende Rückbesinnung auf Konzepte der 50er und 60er Jahre sein.
Es lohnt sich da einmal genau hinzuschauen.
Die Treppenstraße in der Achse Hauptbahnhof bis Friedrichsplatz. Die Häuserzeilen am Ständeplatz, entlang der Straßen Wolfsschlucht und Neue Fahrt mit den gelungenen Laternengeschossen. Der klare und zugleich leicht verspielte 50er Jahre Stil für neue Häuserzeilen der neuen Altstadt am Entenanger oder rund um den Pferdemarkt oder am Steinweg: Erker, Balkon und Loggien fügen sich zu einem Gesamtbild zusammen.
Dann in den 80er Jahren die von Josef Beuys initiierte Stadtverwaldung, die ein Umdenken bewirkt und im Mitdenken die gesamte Bevölkerung erfasst. Zehn Jahre später entsteht ein Quartier neu, der Wiederaufbau der gesamten Unterneustadt beginnt, zugleich mit dichter Bebauung und Leichtigkeit in der Fassadengestaltung, aufgelockert mit Balkonen, Loggien, Dachterrassen. Ebenfalls in die 90er Jahre fällt die für die Ansicht der Innenstadt so zentrale Wiederherstellung des Friedrichsplatzes als Anlage der Öffnung. Die zur Durchgangsstraße hin trennende Mauer fällt. Beide Teile des neu belebten Platzes verbinden sich, was erneut zur Blickrichtung auf Landschaft und Karlsaue veranlasst. Es ist wieder und zugleich neu eine eindrucksvolle Sichtachse: Treppenstraße, Portikus des Roten Palais, Fridericianum, Ottoneum, Neues Theater, Documenta-Halle und der Rahmenbau. Und ist nicht der leichte Bogen um das Theater eine ständige Aufforderung zu dem in Ansicht nehmen eines Ensembles: Orangerie, Karlsaue, Fulda und Landschaft. Eine reale Postkarten-Ansicht!
Richtig, der Neuaufbau 1950 bis 1980 ging auch mit zahlreichen rigorosen Abrissen und falschen Bauentscheidungen einher. Aber, im dargelegten Blickwinkel, ist die Innenstadt Kassels heute nicht mindestens genau so sehenswert wie vor der Zerstörung?
Im „Mindestens“ verstecken wir unsere aktuelle "Postkartenwerbung" eben nicht!
Ausgehend von eigenen Untersuchungen, z. B. zur Kulturgeschichte in und auf Postkarten, und vorgelegt durch unsere Materialien können wir diese Wertung nämlich offen vornehmen, erläutern und auf das Gesamtbild der wieder aufgebauten und neu gestalteten Stadt beziehen, ebenso auf einzelne noch in den letzten Jahren so sehr gelungene Entwicklungen: Weitere Alleen, Boulevards, umgestaltete Plätze, Restaurierungen einzelner Häuser in der Altstadt, das Gesamtbild der Unterneustadt und überhaupt das Bekenntnis zur Stadt am Fluss.
Und dann, im historischen Vergleich von Postkarten entstehen auch Ideen für die weitere Stadtgestaltung. Wir denken da z. B. an eine Bildinstallation, die eine historische Fotografie auf eine Fassade projiziert und das kunstvolle, teilweise erhaltene Geländer in die Gestaltung einbezieht. Das Portal des Weißen Palais ließe sich abbilden und in die Nutzung eines Schaufensters für das Kaufhaus SinnLeffers einbeziehen - „Mode im Palais“. Mehr hier in der Site unter Kollagen.
Unsere Erkundungen sind als Rundgänge so angelegt, dass sich die Teilnehmerinnen und Teilnehmer anhand von Materialien selbst ein
Bild machen, indem sie vor Ort genau hinschauen, vergleichen und hinterfragen. Zu unseren Wertungen Stellung zu beziehen gehört ebenso dazu.
Bei der Materialentwicklung konzentrieren wir uns auf die Rundgänge, zum Beispiel:
Blickwinkel auf den Friedrichsplatz
Rund um die Fuldabrücke
Rund um den Königsplatz
Der Stadtmauer von 1760 entlang.
Die hier in der Website und in unseren Materialheften veröffentlichten Postkarten stammen vorwiegend aus privater Sammlung, wenige aus den Beständen von Stadtarchiv und Stadtmuseum. Mit beiden arbeiten wir, Material und Ideen austauschend, gern zusammen.
Jürgen Fischer und Ursula Spielmann,
Arbeitskreis Jugend im VHG, Januar 2016