
Wir gehen Spazieren, selbstverständlich!
Als Zeitvertreib, um Orte aufzusuchen, dort kurz zu verweilen, um die Umgebung zu
genießen, etwas anzuschauen. Alles mit Muße! Der Weg ist das Ziel.
Um 1800 war es unschicklich, als Frau ohne Begleiter hinunter zur Karlsaue zu gehen. Hausangestellte führten Hunde aus, aber einfach mal so spazieren gehen, das war
undenkbar. Einhundert Jahre später sieht das anders aus. Alle Gesellschaftsgruppen und auch Frauen allein nehmen z. B. am Sonntagsspaziergang teil.
Spazieren zu gehen macht Selbstbewusstsein und Stolz auf soziale und politische Errungenschaften sichtbar.
Die Untersuchung von Bildmaterial aus der Geschichte Kassels weist diesen Strukturwandel nach. Bis heute haben sich das Verständnis und die Praxis des Spazierengehens noch mehrmals grundlegend verändert.
Die Frau auf der Postkarte nutzt die Schlosstreppe, um hinunter in den Park zu gehen. Vielleicht ist sie dort verabredet. Egal, das Foto ist ein Zeitdokument. Die Dame geht
allein, das ist nicht mehr unschicklich. In ihrer Haltung, dem Gang, der Kleidung drückt sie Selbstbewusstsein aus.
Das genauer zu untersuchen und nachzuweisen ist ein Strang der folgenden Bilderzählung.
Ein zweiter Strang bezieht sich auf den Hintergrund, das Gebäude und die Treppe sowie die Fotobearbeitung.
Der dritte Aspekt ist, dass sich Frauen
Gleichberechtigungen erkämpfen müssen.
Eine dieser Gleichberechtigungen aus der Geschichte des Spazieren gehens ist, dass Frauen Spazieren fahren, auf dem Fahrrad, in Begleitung, allein, in selbst gewählter Kleidung.
Zurück zum Foto.
Es lässt sich nicht nachweisen, dass der Fotograph auf diese Momentaufnahme gewartet hat. Vielleicht ist auch die Szenerie mit der Frau im Mittelpunkt und zwei Männern sowie einem Jungen arrangiert. Wieso? Die Frau ist ein Blickfang, in der heutigen Werbesprache ausgedrückt der Eye-Catcher der Fotografie.
Um 1900 war die Reklame bereits ein einflussreiches Medium. Die meisten Journale finanzierten sich wesentlich bereits über Einnahmen daraus. Die Postkarte hier ist keine Reklame in diesem Verständnis. Aber der Fotograf - oder war es eine Fotografin - fertigt das Bild aber mit Blick auf den Verkauf an. Was spricht mögliche Käufer an? Ein genaueres Betrachten lohnt sich, weil dabei mehrere Aspekte des Kaufanreizes ermitteln lassen
Zuerst ist es der ungewöhnliche Moment, der im Bild festgehalten ist. Wir erblicken die Frau und schauen die Treppe hoch zum Regierungsgebäude. Auffällend mit beinahe keckem Hut, heller Bluse, Säckchen und dunkelbraunem Faltenrock erfasst sie der Fotograf im für die Bildwirkung interessanten Moment, der Emotionen anspricht. In der Bildkomposition positioniert er die Frau im horizontalen Goldenen Schnitt.
Zugleich dürfte auch der Blickwinkel aus der Froschperspektive auf Regierungsgebäude und Schlosstreppe eine Entscheidung zum Kauf beeinflussen.
Cassel ist Sitz des Oberpräsidiums in der preußischen Provinz Hessen-Nassau.
Das 1882 fertiggestellte Regierungs- und Justizgebäude steht an der Stelle des 1811 abgebrannten Stadtschlosses. Das Foto ist bearbeitet - verstärkte Linien und veränderte Farben (Chromo-Autotypie) erzeugen die Illusion von Tiefe. Der Fotograf lenkt den Blick zuerst auf die Frau und dann die Treppe hoch auf das erst im gefälligen Farbton und den betonten Sockelgesimsen so ansprechend wirkende Gebäude.
Die Schlosstreppe hat eine Bedeutung für die Kulturgeschichte des Spazierengehens.
Die Postkarte
Das Druckverfahren
Eine Frau geht allein...
Das Utensil, die Kleidung
Das Regierungsgebäude
Die Schlosstreppe
Werbung
Frauen gehen spazieren,
mit und ohne Begleitung
Spazieren fahren,
Frauen auf dem Fahrrad